„Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will“, sagte einst der amerikanische Nobelpreisträger für Literatur William Cuthbert Faulkner (1897–1962). Na, dann mal los …
NF2 bestimmt nicht mein Leben, sondern ist ein Teil meines Lebens. Viele Höhen und Tiefen bereicherten meine inzwischen 60 Lebensjahre. Aufgewachsen in der DDR, zehn Jahre Schulzeit, Studium zur Agraringenieurin, Hochzeit, drei Kinder – alles wie im Traum. 1989 begannen die großen Änderungen in meiner Biografie: die Wende, der Verlust des Arbeitsplatzes, Hörstürze mit der abschließenden Diagnose NF2, Scheidung, der schmerzliche Abschied von meinem Sohn nach seiner Leukämieerkrankung … Wie ich es schaffte, aus diesen Schicksalsschlägen wieder herauszukommen, konnte ich den Lesern im ersten Buch „Wir“ in der Geschichte „Zauberwort Selbsthilfe“ erzählen.
Und wieder tat sich ein vermeintlich tiefes Loch auf. Seit mehr als einem Jahr ist nun Corona bestimmender Bestandteil in meinem und unser aller Leben. Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Isolation, Ärger mit der Maskenpflicht und mehr – alles Dinge, die der Seele nicht guttun. Ich kann in der unverschuldeten Situation den Kopf in den Sand stecken. Oder mich auf die Widrigkeiten einlassen und das Beste daraus machen.
Ich war schon immer gern mit dem Fotoapparat unterwegs. Vor vielen Jahren wurde meine Namensgebärde von Freunden kreiert, der mir bis heute gefällt: Der kleine Finger fürs „Ines“ und Daumen und Zeigefinger zeigen die Gebärde für „fotografieren“.
Mein heutiges Equipment ist ziemlich umfangreich geworden, sowohl vom Preis als auch vom Gewicht her. Frau gönnt sich ja sonst nix … Meine erste Kamera war eine Power Shot, später kamen die Spiegelreflexkameras auf den Markt, von denen ich ständig zwei mit mir rumschleppe. Theoretisches Fachwissen konnte ich mir in Workshops bei der VHS aneignen, bin in einem Fotozirkel aktiv, halte Kontakt mit Profifotografen und lerne immer wieder aufs Neue hinzu.
Mein Steckenpferd ist die Naturfotografie. Seien es die heimischen Tiere, die sich in der Flora brechenden Sonnenstrahlen, der Mond in den verschiedenen Phasen, Phantasiegebilde an Bäumen, das stille oder tosende Wasser – alles was kreucht und fleucht, glitzert oder mein Auge fasziniert, versuche ich festzuhalten. So bin ich fast täglich mit meinen Kameras unterwegs und teile die Schönheit der Natur in meiner Heimat – der Oberlausitz – mit meinen Freunden im WhatsUp-Status und bei Facebook. Warum weit reisen, wenn das Schöne so nah ist? Die 15-Kilometer-Ausgangsbeschränkungen waren schon eine Herausforderung. Trotzdem, täglich gibt es auch an wiederkehrenden Orten Neues zu entdecken, zu allen Jahreszeiten.
Die Wanderungen durch die Natur bringen zahlreiche Aufnahmen auf die Speicherkarten. Die müssen gesichtet, aussortiert, bearbeitet und bereitgestellt werden. So sieht mein Tagesablauf meist morgens den Aufenthalt im Freien vor, und abends folgt die schwierige Auswahl der besten Fotos. Manchmal wache ich morgens auf und ziehe sofort mit der Kamera los, um einen grandiosen Sonnenaufgang zu erhaschen. Da darf man nicht lange überlegen oder Zeit am Waschbecken vertrödeln, meist sind es unplanbare, grandiose Momentaufnahmen. Ständig habe ich die Wetter-App im Blick, damit ich die Wanderung dann auch trocken überstehe.
Das wirklich Tolle für mich ist der damit verbundene Kontakt mit meinen nah und weit entfernt lebenden Freunden. Beachtlich sind die vielen zunehmenden Selbstversuche mit den Handykameras, die ohne Frage auch schon gelungene Aufnahmen zaubern. Lustig sind die Nachfragen: „Wo bleibt dein Mond?“ „Alles in Ordnung bei dir? Ich vermisse deine Fotos.“ „Was ist das für ein Tier?“ „Ist bei euch der Tierpark schon geöffnet?“ „Endlich kann ich zu Bett gehen, denn dein neuer Status ist da …“ Lehrreich ist der fachliche Austausch, wenn ich ein Tier falsch bezeichne (Frau lernt nie aus …). Eine liebe Überraschung war die Lieferung eines tollen Blumenstraußes aus NRW, der über mehrere Wochen mein Wohnzimmer schmückte.
De facto bin ich eine Botschafterin für meine schöne Oberlausitz geworden. Diese ist gekennzeichnet durch unzählige Biotope mit ihren Teich- und Seenlandschaften, eindrucksvoller Flora und nicht alltäglicher Fauna. Für mich dienen die Streifzüge der Erhaltung von Vitalität und Fitness und sind zum Teil sogar Hör-, Augen- und Gleichgewichtstraining, wenn ich mit meinen Schlappohren auszumachen versuche, in welcher Richtung sich die Kraniche, Wildgänse oder Waldvögel befinden.
In meinem nächsten Leben werde ich Profifotograf und reise um die Welt mit meinen Kameras. Die Fotografie ist neben der Laut- und Gebärdensprache meine dritte Sprache geworden. Jährlich – schon fast traditionell – gestalte ich einen Fotokalender mit den schönsten Aufnahmen. Ich verschicke ihn an ausgewählte Freunde und bereite damit mir und anderen Glücksgefühle. Und wie erkannte so schön Albert Schweitzer: „Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.“
Autor: Ines Reimann (NF2-Betroffene)