Das Zauberwort Selbsthilfe

»Mutti! Muuuttti!« Ich vernehme ein verzweifeltes Rufen, doch woher kommen die Hilfeschreie? Voller Panik renne ich aus dem Haus. Mein dreijähriger Sohn war draußen doch gerade noch brav am Spielen – mit seinem Kinderfahrrad. Ich renne ums Haus, stürme durch den Garten, schaue in bisher kaum wahrgenommene Ecken und Verstecke, kann nur Wimmern vernehmen. Irgendwie funktioniert der mütterliche Instinkt: Mein Kind schwebt in Gefahr!

»Wo bist du?«, schreie ich. Ich höre etwas, kann aber die Richtung der Gefahrenrufe nicht ergründen. »Mein Kind – woooo bist du?«

Eine solche Situation wünsche ich keiner Mama. Aufgrund meiner Hörbehinderung ist schon längere Zeit kein Richtungshören mehr möglich. Richtig bewusst geworden ist mir die Tatsache aber erst nach dieser Gefahrensituation. Wäre ein Nachbar nicht zufällig auf dem

Dorfweg entlang spaziert und hätte meinen Sohn aus dem Bach gerettet, wäre dieser in einem unscheinbaren, 30 Zentimeter tiefen Rinnsal er trunken.

Ein halbes Jahr vor dieser Episode war ich in die Welt der Schlappohren – wie ich sie mit meinen schwerhörigen Freunden gern nenne – rein geschliddert. Ungeplant. Ungewollt. Unwissend. Angekommen in dieser Welt bin ich erst viel später. Habe ich Watte in den Ohren? Alles klingt dumpf und ich kann mein Umfeld akustisch nicht verstehen. Ständiges Pfeifen begleitet mich nun schon mehrere Tage. Eine Vorstellung beim HNO Arzt wird sich nicht vermeiden lassen. Dieser weist mich kurzerhand in die 20 Kilometer entfernte HNO Klinik nach Görlitz ein. Knapp ist die Aussage der Spezies: »Sie kommen an den Tropf. Sie haben einen Hörsturz!« Gut möglich, sollen ja Stress, Unruhe und Überarbeitung für einen Schlaganfall im Ohr als häufige Ursache gelten.

Tja, der goldene Herbst 1989 – ich werde die Tage und Wochen der Wende nicht vergessen. Verfolgte ich doch die Nachricht zur Grenzöffnung durch Günter Schabowski zufälligerweise

im Fernsehraum der Klinik. Für meine Familie und mich war es eine aufregende und anstrengende Zeit. Mit drei kleinen Kindern lebten wir damals in schlichten Wohnverhältnissen. Ziemlich beengt. Plumpsklo auf dem Hof. Jeden Morgen die Öfen heizen, wenn denn welche in den Zimmern vorhanden waren. Es gab ein Wohnungsangebot in einem anderen Ort, und wir warteten sehnsüchtig auf den Umzug: Die dortigen Mieter bauten ein neues Haus, und wir sollten nur ausharren, bis die Baumaßnahmen vollendet wären. Die Tochter wurde in dem zwölf Kilometer entfernten neuen Wohnort ein geschult, verbunden mit ständiger Fahrerei. Die Wende machte es zunichte. Unser neues Heim wäre das Haus einer Aussiedlerfamilie in die BRD gewesen, die nach einiger Zeit Besitzansprüche auf ihr Eigentum geltend machten. Die Suche nach einer neuen Wohnung blieb dennoch präsent. War das alles zu viel und EINE Ursache für den Hörsturz, dem nach und nach mehrere folgten – bis zur Ertaubung einseitig?

Ich wurde von Hinz zu Kunz, von Untersuchung zu Untersuchung, von Facharzt zu Facharzt geschickt. Zwei Jahre sollte die Suche nach erkennbaren physischen oder psychischen Gründen für die voranschreitende Ertaubung dauern. Ohne Erfolg.

1991: Hiobsbotschaft meiner Schwester. Sie wird mit einem Hörsturz in die Uniklinik in Jena eingeliefert. Und siehe da, die Krankheit bekommt auf einmal einen Namen: Neurofibromatose Typ 2. Schlecht hören konnten wir in der Familie schon immer gut. Mein Großvater war ertaubt. Er war im Zweiten Weltkrieg bei den Fliegern eingesetzt, und man erklärte den Hörverlust mit dem permanent lauten Geräuschpegel. Mein Vater arbeitete während seiner Berufstätigkeit in einer Werkzeughalle als Fräser – also auch hier wurde die Ertaubung mit der lärmenden und dröhnenden Dauerbelastung begründet. Nun sind meine Schwester und ich an der Reihe. Jetzt ist einiges klar.

Juni 1992: »Hallo? Können Sie mich hören?« Komisch, welche Gedanken man sich nach Aufklärung über mögliche Risiken vor einer großen Operation macht. Ja! Ich bin noch da auf dieser Welt. Ja! Ich kann meine Gliedmaßen spüren.

Ja!!! Etwas ist trotzdem anders. Irgendwie fällt mir das Sprechen schwer. »Ist mit meinem Gesichtsnerv alles in Ordnung?«, frage ich wiederholt und beunruhigt die Schwestern in der Aufwachstation. Verhaltene Blicke. Ich spüre, dass es doch Komplikationen gab. Ein erster Blick in den Spiegel zeigt mir eine Lähmung der rechten Gesichtshälfte.

»Ziehen Sie die Nase kraus! Runzeln Sie die Stirn! Zeigen Sie die Zähne! Sagen Sie: Pappplatte …« Mühseliges Training mit den Therapeuten steht täglich auf der Tagesordnung. Ich bin ungeduldig. Der Erfolg lässt auf sich warten. Mein selbst auferlegtes Trainingsprogramm ab solviere ich beim Rauchen. »Versuche mal einer, mit kaputtem Mund eine Zigarette zwischen den Lippen zu halten, sie anzuzünden, kräftig am Glimmstängel zu ziehen …« Ich nehme die Hände zu Hilfe, mit denen ich meine Lippen zusammendrücke. Gern übernehme ich den Part in der Raucherecke vor der Klinik, indem ich für andere Raucher die Zigaretten anzünde. Auch gleich mal mit zwei Kippen im Mund – Training unter erschwerten Bedingungen.

September 1992: »In Kürze erreichen wir Rendsburg.« Ich sitze seit Stunden im Zug von Sachsen in den hohen Norden. Aufgeregt. Er wartungsvoll. Unter der riesigen Eisenbahn schleife reihen sich idyllische reetgedeckte Häuser in gepflegten Vorgärten, die Einstimmung ist beeindruckend. Der Zug überquert in riesiger Höhe den Nord-Ostsee-Kanal. Ich habe eine Rehabilitation im Reha Zentrum für Hörgeschädigte in Rendsburg genehmigt bekommen. Erstmals in meinem Leben fahre ich zu einer Kur – weit weg von daheim. Zuhause kümmert sich meine Schwägerin um den Haushalt mit den dazugehörigen drei kleinen Kindern (sechs, neun, elf Jahre) und Mann. Diese Sorge bin ich erst mal los.

Ich öffne die schwere Holztür in dem weißen Haus am Paradeplatz. Noch heute erinnere ich mich an das fröhliche Geschnatter und den verführerischen Duft nach frisch gebackenem Kuchen. Ich fühle mich rasch herzlich aufgenommen im Kreis von hörbehinderten Menschen aus Deutschland, Belgien und Österreich und verlebe unvergessliche und motivationsantreibende vier Wochen. Das Tagesprogramm ist saftig: Erlernen und Anwenden des Fingeralphabets, An eignen von Grundlagen in der Gebärdensprache, Entdecken und Testen technischer Hilfsmittel, Nutzen der psychologischen Betreuung, Basis wissen erfahren über das deutsche Behinderten- und Sozialrecht. Das tägliche Beisammensein mit anderen Schlappohren zeigt mir, dass ich nur eine unter vielen bin. Eigentlich geht es mir doch gut. Ich bin nicht taub, ich kann sprechen, ich kann sehr gut von den Lippen absehen, ich bin bewegungsfähig und mobil. Ich fühle mich pudelwohl. Mit gestärktem Selbstbewusstsein und vielen guten Vorsätzen fahre ich wieder nach Hause in den Alltag.

1996: Im Laufe von vier Jahren falle ich in ein tiefes Loch – tiefer und tiefer. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Alle guten Vorsätze sind dahin. Der Hörverlust geht mit raschen Schritten voran. Selbstmitleid. Isolation. Arbeitslosigkeit. Scheidung. Alkoholmissbrauch. Depressionen. Die familiäre und soziale heile Welt bricht zusammen. »Wenn du dich nicht bald aufraffst, dein Leben in die Reihe zu bekommen, werde ich dich verlassen.« Harte Worte meines neuen Lebenspartners. Ich erkenne: Wenn ich nicht jetzt etwas unternehme, dann liege ich bald einsachtzig tief. Hilfe!

1997: Mein Reset – ich agiere. Als erstes gebe ich mein Schicksal in andere Hände.

Wieder ein unvergesslicher Termin in meinem Lebenslauf. Das DFB Pokal Endspiel 1996/97 mit dem 2:0 Sieg des VfB Stuttgart gegen den damaligen Regionalligisten Energie Cottbus er lebe ich in der Pförtnerloge eines Münchner Hotels. Wahrscheinlich habe ich die Daumen nicht fest genug gedrückt für die rot weißen Helden; in unserer Oberlausitzer Region fiebern natürlich viele Anhänger mit.

Am Tag nach dem spannenden Fußballabend wird mein Akustikusneurinom links mit Gammaknife bestrahlt. »Das Gehör wird möglicher weise schleichend schlechter. Unsere besten Patienten können nach heutigem Kenntnisstand noch fünf Jahre lang hören«, so die Aussage vom Professor. Gut, denke ich, fünf Jahre Hören ist halt besser, als sofort zu ertauben. Auch wenn die Gewissheit besteht, dass eine lebensnotwendige operative Entfernung später einmal wesentlich komplizierter sein wird. (Der Hörverlust nahm übrigens wirklich stetig zu – bis zur an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit, die dann 2011 nicht mehr mit einem Hörgerät kompensiert werden konnte. Aus den vorausgesagten fünf sind insgesamt noch 15 Jahre des Hörens geworden.)

Mein Reset geht weiter. Ich sehe endlich wieder nach vorn und erinnere mich an meine gefassten Vorsätze aus Rendsburg. Das Zauberwort heißt Selbsthilfe. Sich selbst helfen, indem man anderen hilft. Geben und nehmen. Nur nicht allein im stillen Kämmerlein dahinvegetieren. Wieder eine Aufgabe im Leben übernehmen und gebraucht werden. Eine Selbsthilfegruppe suchen. Oder eine Selbsthilfegruppe aufbauen? Ich entscheide mich für Letzteres. Ich behaupte, das war meine Lebensrettung. In unserer Kleinstadt suche ich mit einiger Vorbereitungszeit und Engagement Betroffene, die Lust haben zum Austausch von Erfahrungen und mit Hilfe zur Selbsthilfe neuen Lebensinhalt finden wollen. Meine »Ehrenamtskarriere« beginnt. Die Gründung der SHG (Selbsthilfegruppe) für Hörgeschädigte in Niesky wird mit 15 Betroffenen am 15. Dezember 1998 vollzogen.

Ich finde auf Empfehlung aus Rendsburg einen bundesweiten Verein, der sich Selbsthilfe auf die Fahnen schreibt, und gelange zur Deutschen Hörbehinderten Selbsthilfe e. V. (DHS). Mit dem Wahlspruch »Betroffene handeln in eigener Sache!« entstanden schon 1983 an verschiedenen Orten in Deutschland erste Selbsthilfegruppen von ehemaligen Teilnehmern der Rehabilitationen für Hörgeschädigte im Reha Zentrum Rendsburg. Bei mir hat es halt sechs Jahre nach meinem Aufenthalt in Rendsburg gedauert – bis ich die Daseinsberechtigung einsehe. Ich nehme von nun an regelmäßig an Seminaren teil und entwickle mich zum Experten in Sachen Selbsthilfe. 2002 werde ich in den Vorstand der DHS gewählt und übe diesen ehrenamtlichen Fulltime-Job bis 2014 aus. Heute bin ich Beisitzer im Vorstand und kann mit meiner jahreslangen Erfahrung den Verein weiter unterstützen. Selbsthilfe ist MEIN Lebenselixier – und so finde ich auch zur bundesweiten SHG für NF2 Betroffene. Hier versuche ich, mit meinem begrenzten Zeitrahmen zu unterstützen, wo es für mich machbar bleibt. Die jährlichen Mücke Treffen dienen zum Krafttanken. Wie meinte die leider so früh verstorbene Julia mal so wunderbar in einer Abschlussrunde: »Hier tanke ich richtig auf, nicht Benzin Super, sondern Super Plus.«

2011 werde ich links mit einem Cochlea Implantat versorgt und kann weiter mein Restgehör nutzen, um Sprache zu verstehen. Ich bin mir sicher, dass ich ohne meine vielen Schlappohren Freunde nie auf die Idee gekommen wäre, diese Option für mich zu prüfen. Langjährig galt in meiner heimatlichen HNO Versorgung die Hypothese, dass NF2 Patienten nicht mit dem Implantat versorgt werden können.

Heute bin ich in der Welt der Schlappohren angekommen. Ich weiß, was mit meinem Handicap möglich ist, und habe gelernt, mit den ungewollten und vorhandenen Einschränkungen gut zu leben, so wie zum Beispiel mit dem nicht funktionierenden Richtungshören zu Beginn meiner Geschichte.

Meine NF2 Erkrankung und meine Ertaubung gehören zu meinem Leben wie das Salz in der Suppe. Was ich heute bin, bin ich durch die Selbsthilfe, durch meine vielen unverzichtbaren Freunde und die Unterstützung meiner Familie. Ich darf jederzeit auch wieder fallen; aber ich bin mir ganz sicher, dass das Loch nie wieder so tief sein wird wie in meiner schlimmsten Zeit.

Ich klaue mir mein Abschlusswort von Peter, der da so treffend sagte:

Am Ende ist alles gut. Und wenn es nicht gut ist, so ist es nicht das Ende.

 

Von: Ines Reimann

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